Kunst und Abbildung
Ein gewagter Versuch den Begriff Kunst zu definieren
In Lion Feuchtwangers Roman über Francisco de Goya wird dessen arger Weg der Erkenntnis beschrieben, der den Maler von der blossen Abbildung des sichtbaren, des offensichtlichen hinführte zur Darstellung des verborgenen, des spürbaren, seiner inneren Bilder. Er stellte in seinen Gemälden und Grafiken nicht nur das mit den Augen sichtbare, sondern vor allem, das mit allen Sinnen (und Übersinnen) wahrnehmbare, das spürbare seiner Welt dar. Es ging ihm nicht mehr nur um die Glorifizierung von Wundern und Heldentaten, die idealisierte Harmonie, die Schönheit, welche die Regeln der Kunst bis dahin ausschliesslich geprägt hatten. Es ging ihm zunehmend um die Wahrheit, seine Wahrheit, wie er sie erlebte und spürte, sein persönliches Abbild der Welt.
Grenzen der Realität
Im Allgemeinen nehmen wir an, dass das, was wir sehen die Realtät sei. Eine genaue Betrachtung des Sehens jedoch zeigt, dass wir mit unseren Augen eigentlich nicht die Welt selbst, sondern das Licht wahrnehmen, das von Gegenständen reflektiert bzw. von diesen ausgesandt und auf der Netzhaut abgebildet wird. Von dort gelangen die optischen Informationen ins Gehirn, wo sie mit Informationen von anderen Sinnesorganen zu einem Abbild des gesehenen verarbeitet werden. Dieses Abbild wird ergänzt und beeinflusst von erinnerten Informationen früherer Bilder und Situationen. Was wir also sehen ist keineswegs die Realität selbst, sondern ein Abbild unserer Umgebung, das von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird, z.B. dem Licht, das die Gegenstände beleuchtet, den optischen Eigenschaften der Augen, Informationen von anderen Sinnesorganen, erinnerten Bildern. Zwei Personen, welche dieselbe Szene beobachten, werden daher kaum dieselben Bilder sehen.
Was bedeutet das für die Kunst?
Was nun, wenn wir diese Erkenntnis auf die Kunst anwenden? Wenden wir uns zuerst den so genannten bildenden Künsten zu. Maler oder Bildhauer nehmen, wie wir gesehen haben, ihre Umwelt wahr, und bilden daraus ihre innere Realität. Diese wird beeinflusst von Wahrnehmungen anderer Sinnesorgane, von Erinnerungen, Gefühlen, Stimmungen usw. – Bewusstem und Unbewusstem. Aus ihrer persönlichen Realität, ihren inneren Bildern formten sie nun ihr Werk oder – besser gesagt – eine Idee ihres künftigen Werks, das sie dann mit Hilfe von Materialien und handwerklichen Methoden in das eigentliche Werk, ein Bild oder eine Skulptur beispielsweise, umsetzen. Ähnliches geschieht auch bei Schriftstellern oder Komponisten. Der Unterschied besteht einzig in den Materialien und Methoden mit denen sie die Idee in das eigentliche Werk, z.B. einen Text oder eine Komposition, umsetzen. Etwas anders verhält es sich mit den darstellenden Künsten, dem Theater, der Musik etc. Dort lesen die Künstler die Werke der Schriftsteller oder Komponisten, kombinieren diese mit ihren inneren Bildern und formen daraus die Idee ihrer Interpretation, die sie dann zur Darstellung bzw. Aufführung bringen.
Eine komplexe Folge von Bildern und Ideen
Die beschriebenen schöpferischen Prozesse lassen sich so als eine komplexe Folge von Bildern oder Ideen, die über mehrere Stufen kombiniert und transformiert werden, verstehen. Bei den Bildern handelt es sich, wie wir gesehen haben, immer um innere Bilder, innere Realitäten der Künstler, ganz gleich, ob es sich um die direkt wahrgenommene, vermeintliche Realität, Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Träume oder Ideen handelt. Sie alle bilden zusammen die innere Realität der Künstler. Die Transformationen und Wandlungen der Bilder kann man abstrakt als Abbildungen beschreiben – ähnlich wie Abbildungen oder Funktionen in der Mathematik. Dort wird eine Menge (ein Bild zum Beispiel) mit Hilfe einer Funktion oder Abbildung in eine andere Menge transformiert oder abgebildet. So betrachtet könnte man Kunst ganz allgemein als Abbildung einer persönlichen, inneren Realität, einer Idee des Künstlers, der Künstlerin in ein in irgend einer Form von anderen Menschen wahrnehmbares Werk abstrahieren.
Goyas arger Weg der Erkenntnis
Zurück zu Francisco de Goya: Im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgänger und Zeitgenossen bemühte er sich nicht nur, die sichtbare, vermeintlich reale Welt möglichst naturgetreu abzubilden, sondern brachte zunehmend seine Empfindungen, Gefühle, Stimmungen, Alpträume, seine Dämonen auf Papier und Leinwand. Bis dahin hatten Künstler eher versucht, die vermeintliche Realität möglicht genau wiederzugeben und dabei ihre inneren Bilder so weit wie möglich auszublenden und zu verdrängen. Mit der Konsequenz und Kunstfertigkeit die Francisco de Goya für die Darstellung seiner inneren, subjektiven Welt aufwandte, war er seiner Zeit weit voraus.