Homo Oeconomicus
Die Frage
In unseren wettbewerbs- leistungs- und wachstumsorienterten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen gilt der so genannte Homo Oeconomicus als Prototyp des Menschen schlechthin. Ich will hier untersuchen, ob dieses Bild die wirkliche und einzige Natur der Menschen beschreibt, oder ob es ich dabei um ein weiteres gesellschaftliches Paradigma handelt, das im Lauf der Geschichte entstanden ist und heute als allgemein gegeben angesehen, kaum hinterfragt und daher selten zur Diskussion gestellt wird.
Geschichte
Die Geschichte unseres wettbewerbs- leistungs- und wachstumsbasierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems beginnt mit der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert und setzt sich bis heute kontinuierlich fort. Im Gegensatz zum Mittelalter mit seinem metaphysischen, stark aufs Jenseits ausgerichteten Menschenbild entwickelten sich rationalistisch, materialistische Ansichten. Thomas Hobbes z.B. entwickelte das Menschenbild eines mordenden und raubenden Ungeheuers, das in seinem Fall durch die absolute Macht eines Herrschers begrenzt und eingedämmt werden muss. Bereits hier sind erste Grundstrukturen des amoralischen Homo Oeconomicus erkennbar. Später propagierten die Theorien von Adam Smith (Die unsichtbare Hand des Marktes) den freien und ungehinderten Markt als ideale Regelgrösse für ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Auch Smith definiert den Menschen als amoralisches, ausschliesslich den eigenen Nutzen optimierendes Wesen. Hier liegt, allen Gegensätzen zum Trotz, eine deutliche Parallele zu Hobbes Theorien. Die Evolutionslehre des Charles Darwin (survival of the fittest) schliesslich lieferte die angeblich wissenschaftliche Begründung für die Theorien Hobbes und Smiths. In extremer Verallgemeinerung der Theorien von Darwin wurde daraus der so genannte Sozialdarwinismus entwickelt. Dieser wendet Darwins Evolutionstheorie auf menschliche Gesellschaften an und besagt vereinfacht, dass Völker, Nationen und Individuen in einem gnadenlosen Wettkampf ums Überleben stehen (survival of the fittest). Die Herrenvölker unterjochen, verdrängen und ermorden die minderwertigen Sklavenvölker. Die Theorie wurde mit Hilfe pseudowissenschaftlicher Argumente zum Naturgesetz erhoben und damit jeglicher Diskussion oder moralischer Bewertung entzogen. Der Sozialdarwinismus wurde zur theoretischen Grundlage unter anderem für Rassismus, Imperialismus und schlussendlich für den deutschen Nationalsozialismus.
(Ich bitte die starken Vereinfachungen und Kürzungen zu entschuldigen. Das Thema würde problemlos mehrere Bücher füllen. Ich empfehle hierzu die Lektüre von Hannah Arendt ‹Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft›)Rückwirkungen
Die führenden Business- Schulen von Chicago bis St. Gallen vermitteln ihren Studenten, dass im Wirtschaftsleben einzig und allein finanzieller Erfolg, d.h. immer mehr an Umsatz, Gewinn und Wachstum zählt. Das Wohlergehen der Menschen spielt dabei nur insofern eine Rolle, dass sie als Arbeitskräfte und Konsumenten im Wirtschaftskreislauf gebraucht werden. Menschen, die weder als Arbeitskräfte noch als Konsumenten eine Rolle spielen, sind in diesem auf Nutzen und Leistung getrimmten System im wahrsten Sinne des Wortes nutzlos und wertlos. Fächer wie Wirtschaftsethik werden zwar unterrichtet, spielen aber im Endeffekt eine marginale Rolle. Im Zentrum steht uneingeschränkter Wettbewerb und unbegrenztes Wachstum. Die Studenten werden so zu Hochleistungs- Wettbewerbs- und Wachstumsrobotern gedrillt. Sie erwarten später ganz selbstverständlich von ihren zukünftigen Mitarbeitern, dass sie sich ebenso leistungs- wettbewerbs- und wachstumsorientiert verhalten. In diesem Sinne erfolgreiche Menschen werden mit Geld und Statussymbolen belohnt. Sie entwickeln sich mehr und mehr hin zum Charakter des Homo Oeconomicus. Ob sie dabei glücklicher werden, soll hier dahingestellt bleiben. Das Verhaltensschema des Homo Oeconomicus verfestigt sich mehr und mehr und wird im Lauf der Zeit als einzig natürliches Verhalten des Menschen schlechthin wahrgenommen. Menschen, die sich nicht nach diesem Schema verhalten, werden als nutzlos und überflüssig angesehen und daher aus der Gesellschaft ausgestossen. Es entsteht ein zivilisatorischer, nicht ein natürlicher Evolutionsprozess.
Instabiler Regelkreis
Es entwickelt sich so etwas wie ein Regelkreis, der bewirkt, dass sich die Menschen im Lauf der Zeit mehr und mehr dem Schema das Homo Oeconomicus annähern. Das Regelkriterium, nämlich, dass Menschen belohnt werden, die erfolgreich nach immer mehr von Allem streben, liegt nicht einzig in der Natur des Menschen, sondern ist zu einem grossen Teil zivilisatorischen Ursprungs. In der Automatisierungstechnik, meinem (noch) Hauptberuf als Ingenieur, würde man den oben beschriebenen Mechanismus als Prototyp eines instabilen Regelkreises bezeichnen. Würde man beispielsweise einen Motor nach einem ähnlichen Schema regeln, so würde dieser immer schneller laufen, so lange, bis er sich selbst zerstört. Offensichtliche Anzeichen einer fortschreitenden Selbstzerstörung sind auch in unseren hoch entwickelten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen kaum zu leugnen.
There is no Alternative
«Es gibt keine Alternative!» Dieses Zitat der Iron Lady (Margaret Thatcher) besagt, dass es keine Alternative zu leistungs- wachstums- und konkurrenzbasierten kapitalistischen Gesellschaftssystemen gebe. In der Tat sind die allermeisten real existierenden Sozialismen und Kommunismen kläglich gescheitert oder sind, wie im Fall Chinas, von ihrem ursprünglichen Ziel, nämlich Wohlstand und Glück für Alle, weiter entfernt denn je. Sie stellen, zumindest in ihren bisherigen Ausprägungen, keine ernsthafte Alternative zum System des Kapitalismus dar. So betrachtet ist die Aussage von Lady Thatcher nachvollziehbar. Zunehmende Umweltzerstörung, Verknappung von Ressourcen, Klimawandel und globale Verelendung breiter Bevölkerungsschichten zwingen jedoch zur Suche nach Alternativen. Die Frage darf nicht lauten, ob es Alternativen gibt, sondern wie Alternativen aussehen können.
Die Realität ist nur ein Teil des Möglichen
Dieses Zitat von Friedrich Dürrenmatt stelle ich der Aussage der Iron Lady entgegen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns von dem eindimensionalen Links – Rechts, Kapitalismus – Sozialismus Schema lösen. Die Welt ist zu komplex als dass das eine Regelkriterium des Strebens nach immer mehr von Allem zu befriedigenden Ergebnissen führen könnte. Es gilt Regeln für das lokale, regionale und globale Zusammenleben der Menschheit zu finden, die ein Leben in Würde und Sicherheit für alle Gemeinschaften und Individuen sicherstellen und dabei die Freiheit so wenig wie möglich einschränken.
Ist der Homo Oeconomicus ein Naturprodukt?
Jean Jacques Rousseau beschäftigte sich intensiv mit der Frage, was die eigentliche Natur des Menschen sei. Wir wissen heute, dass es das eigentlich natürliche Verhalten der Menschen nicht gibt. Alle Menschen sind wesentlich geprägt durch ihre genetischen Anlagen einerseits und durch Erfahrungen mit ihrer Umwelt und Mitwelt andererseits. Das im Sozialdarwinismus und folglich im Schema des Homo Oeconomicus postulierte Streben nach immer mehr von Allem ist, wie wir oben gesehen haben, nicht nur genetisch vererbt, sondern wurde durch zivilisatorische Einflüsse massgeblich verstärkt. In diesem Sinne sind die Verhaltensmuster des Homo Oeconomicus nicht zwingend und vollständig durch Naturgesetze bestimmt. Die im Sozialdarwinismus angenommene jedoch nicht nachgewiesene Analogie zur Tier- und Pflanzenwelt, dass das ausschliessliche Prinzip des «Survival of the Fittest» auch auf menschliche Gesellschaften anwendbar sei, ist nicht haltbar. Das Verhalten von Fisch- Vogel- oder Insektenschwärmen zeigt beispielsweise deutlich kooperative, nicht konkurrierende Muster, die sich nur sehr bedingt mit Hilfe der Evolutionstheorie erklären lassen.
Es ist weder zu bestreiten, dass das egoistische Streben nach immer mehr von Allem, noch dass die Konkurrenz, das besser sein wollen als die Anderen, in der Natur der Menschen liege. Zu bestreiten ist allerdings, dass diese Verhaltensmuster die einzigen und stets zwangsläufig dominanten Eigenschaften aller Menschen beschreiben. Zweifelsohne gibt es in menschlichen Gesellschaften neben Konkurrenz und Raffgier auch kooperative und altruistische Verhaltensmuster. Ob diese zivilisatorisch erworben oder von Natur aus gegeben sind, spielt schlussendlich keine wesentliche Rolle. Nicht entweder oder, sondern ein ausgewogenes sowohl als auch von Kooperation und Konkurrenz im fairem Wettbewerb muss das Ziel sein.
Thesen
- Die Verhaltensmuster des amoralischen, egoistisch handelnden, stets den eigenen Nutzen optimierenden Homo Oeconomicus sind zwar in der Menschheit weit verbreitet, entsprechen aber nicht unbedingt der einzig wahren Natur des Menschen.
- Denken und Handeln der Menschen sind nicht ausschliesslich durch natürliche Gesetzmässigkeiten vorher bestimmt. Der dem Charakter des Homo Oeconomicus zu Grunde liegende Determinismus verleugnet jede bewusste Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Menschen. In Wahrheit sind die Menschen jedoch durchaus fähig zu bewusstem Denken und Handeln. Ihre Handlungsfähigkeit wird durch so genannte wirtschaftliche «Sachzwänge» eingeschränkt. Die Menschen werden je länger je mehr in das Verhaltensschema des Homo Oeconomicus gedrängt. Dabei handelt sich um keinen ausschliesslich natürlichen, sondern um einen weitgehend zivilisatorisch bedingten Evolutionsprozess.
- Die Wirtschaft soll dem Wohl der Gesellschaft dienen und nicht umgekehrt. Unbestritten braucht es für das Wohlergehen der Menschen ein funktionsfähiges Wirtschaftssystem. Umgekehrt dient aber nicht jede wirtschaftliche Aktivität dem Wohl der Menschen. Wirtschaft darf nicht weiter ein Selbstzweck sein, dem sich die Gesellschaft mehr und mehr unterzuordnen hat. Die Gesellschaft muss ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.
- Eine Wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft ist grundsätzlich sinnvoll. Es müssen allerdings Bedingungen geschaffen werden, die fairen Wettbewerb auf möglichst freien Märkten gewährleisten. Monopole, die den Wettbewerb behindern oder verhindern sind auszuschalten. Die Externalisierung von Kosten ist zu verhindern, bzw. durch angemessene Um- und Rückverteilungen zu kompensieren.
- Ein faires Nebeneinander von kommerziellen Unternehmen, kooperativen Aktivitäten (z.B. Genossenschaften) und öffentlichen Dienstleistungen (Service Public) ist anzustreben.
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