Goya oder der arge Weg der Erkenntnis
Ich habe das Buch wieder gelesen – nach vielen Jahren. Meine Erinnerungen an Goya gehen weit zurück in die Studentenzeit – einige Porträts in der alten Pinakothek in München und ein kleines Bild einer Ringkampfszene – unsigniert – es wurde Goya zugeschrieben – mehr eine Skizze als ein Gemälde – unfertig aber von einer packenden Dynamik. Daneben die Porträts bedeutender Persönlichkeiten von einer berührenden, nahezu schmerzenden Direktheit, einem spürbaren, nicht rational erfassbaren, nicht verbal formulierbaren Sinn. In dieser Zeit stiess ich auch auf einen Bildband über Goyas Desastres de la Guerra (Schrecken des Krieges) – antiquarisch. Eine Sammlung von Radierungen mit drastischen Darstellungen sinnloser Grausamkeiten während der Besatzung Spaniens durch napoleonische Truppen – Mord, Folter, Verstümmelung, Vergewaltigung, Dämonen – Grausamkeiten auf beiden Seiten. Goya ergreift nicht Partei – es geht um die Desastres an sich!
Lion Feuchtwangers Roman beschreibt Goyas Weg von seiner Kindheit in einer ländlich, kleinbürgerlichen Umgebung zum gefeierten Künstler, dem ersten Maler des Königs. Er bewegt sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft. Das höfische Leben erstarrt in jahrhundertealten, überlieferten, grösstenteils sinnlos gewordenen Ritualen. Die Familien bilden die Kulisse. Dahinter informelle, illegitime Beziehungen kreuz und quer. Intrigen um Macht und Besitz auf allen Ebenen: Adel gegen Grossbüger, gegen die Kirche, den Papst, Könige und Fürsten gegeneinander. Die so genannt heilige Inquisition wütet in grausamer Weise – im Namen der Religion. Geheime Verfahren, drakonische Strafen von Verbannung, Kerker, Folter bis hin zu öffentlichen Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen.
Zur gleichen Zeit in Frankreich: die Revolution, der Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das Bürgertum beginnt sich gegen den Adel zu emanzipieren. König und Königin werden auf der Guillotine enthauptet. Neue, liberale Ideen bedrohen überlieferte Strukturen und Ordnungen – auch im Königreich Spanien. Sie werden dort mit allen Mitteln bekämpft und unterdrückt: Zensur, Rede- und Schreibverbote, Verbannung – die Inquisition mischt kräftig mit. Der Maler Francisco de Goya lebt im Spannungsfeld zwischen Adligen, Grossbürgern, liberalen Intellektuellen und den Majas und Majos aus dem Volk, die seine ursprünglichen Wurzeln repräsentieren. Dabei ist er den luxuriösen Vergnügungen der Oberschicht durchaus nicht abgeneigt, feiert aufwändige Feste, pflegt intime Beziehungen zu adligen Damen, malt zahlreiche teuer bezahlte Porträts von allen die Rang und Namen haben. Dabei interessiert er sich zunehmend für die verborgene Wahrheit hinter den Kulissen und Masken. Es geht ihm in seiner Kunst immer weniger nur um die genaue Abbildung des Sichtbaren – vielmehr will er das Spürbare, das Hintergründige, die innere Wahrheit zum Vorschein bringen. Seine Porträts lassen mehr und mehr den hinter Prunk und Pracht verborgenen Charakter, die Abgründe der dargestellten Personen erkennen – erschreckend, verwirrend teilweise.
Mit zunehmendem Alter wird er von einer Schwerhörigkeit geplagt, die später zur vollständigen Gehörlosigkeit führt. Durch die eingeschränkte Kommunikation isoliert er sich mehr und mehr von seinen Mitmenschen. Seine Suche nach dem verborgenen Wesen der Welt führt ihn immer weiter in die Abgründe menschlicher Existenz, das dämonische im Wesen der Menschen – Alpträume plagen ihn. Gemeinhin wird angenommen, er sei wegen seiner tauben Isolation wahnsinnig geworden. Jedoch, was heisst schon wahnsinnig? Lion Feuchtwanger beschreibt diesen Weg, als den «argen Weg der Erkenntnis» mit grossem Einfühlungsvermögen – nicht immer historisch korrekt – die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit verschwimmend.
Die Suche nach dem wahren Wesen der Menschen, mit all ihren Abgründen, treibt Goya zunehmend in den Wahnsinn. Er wehrt sich dagegen, indem er die Dämonen in seiner inneren Welt mit all seiner Kunstfertigkeit auf Papier bannt. Es entstehen beeindruckende Sammlungen von Zeichnungen und Radierungen – insgeheim zuerst – er zeigt sie nur sehr nahe stehenden Freunden. Die Angst, bei seinen adligen Kunden in Ungnade zu fallen, vor der Inquisition ist gross. Nach langem Ringen entschliesst er sich, trotz der grossen Gefahr eine Sammlung von Radierungen, er nennt sie die Caprichos, zu veröffentlichen. Bedrohende Reaktionen bleiben nicht aus. Er entgeht der Verfolgung dadurch, dass er die Druckplatten der königlichen Kunstsammlung schenkt. Auch das riskant: Enthalten doch die Caprichos Karikaturen, die sich unschwer mit dem Adel, der Königin sogar, in Verbindung bringen lassen. Das Königshaus nimmt das Geschenk nach anfänglichem Zögern gnädig an. Die Caprichos werden in der Folge von der königlichen Kunstsammlung publiziert und vermarktet. Goya entgehen zwar die Einnahmen, dafür ist er aber einigermassen vor der Zensur und der Inquisition geschützt.
Mit fortschreitender Taubheit zieht er sich mehr und mehr in sein Landhaus, die Quinta del Sordo, zurück. Das Haus stattet er mit grossflächigen, düsteren und bedrohlichen Wandmalereien aus. Seine Gehörlosigkeit entfernt ihn immer weiter von der Gesellschaft…
Hier etwa endet der Roman von Lion Feuchtwanger. Er hatte geplant, einen zweiten Band über Goya’s weiteren Weg, sein Exil, die Desastres de la Guerra, die Rückkehr nach Spanien, seine letzten Jahre zu veröffentlichen. Dieser wurde jedoch nie realisiert.
Francisco de Goya war vermutlich der erste Künstler, der seine inneren Bilder, seine Träume, Alpträume in dieser radikalen Konsequenz aufs Papier und auf die Leinwand brachte. Man könnte ihn daher als Vorläufer der Expressionisten betrachten, die ihre traumatischen Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg, den menschlichen und gesellschaftlichen Abgründen ihrer Zeit zum Ausdruck brachten. Otto Dix, Lovis Corinth, Max Beckmann zum Beispiel, kommen mir in den Sinn.